德语助手
2018-05-16
Hallo, Leute. Na? Hat es euch in der Schule schon häufig erwischt mit einer Gedichtanalyse?
Alles halb so schlimm. Ich zeige euch, was du dazu wissen musst, und zwar an einem praktischen Beispiel.
Ich hab heute ein Gedicht mitgebracht. Das ist in dieser Box und ich bin so aufgeregt.
Und das werde ich jetzt für euch hier auspacken. Los geht's. Interpretieren bedeutet, dass ihr das Gedicht übersetzt.
Ja, so wie man einen Text aus dem Englischen übersetzt, übersetzt ihr auch ein Gedicht
aus der Sprache des Dichters in die normale Sprache. Ein Gedicht hat immer eine Form und einen Inhalt.
Wenn es nur um den Inhalt ginge, dann könnte der Dichter ja auch hinschreiben: Ist allen klar, worum es geht.
Bei einem Gedicht wird diese Aussage ein klein wenig mehr verpackt. Man muss aber jedes Gedicht einzeln ansehen.
Es gibt keine Gebrauchsanweisung, die immer funktioniert. Deswegen will ich euch eine Interpretation
an einem Gedicht von Goethe vorführen. Unsere Gedichtinterpretation hat drei Teile:
die Einleitung, den Hauptteil und den Schluss. In der Einleitung nennen wir den Namen des Autors,
den Titel des Gedichts, wann es geschrieben wurde und das Thema des Gedichts.
Oder schöner formuliert: "hadern mit unserem Schicksal". Im Hauptteil erläutern wir im Einzelnen, was uns an dem Gedicht auffällt.
Und wir gehen dabei Schritt für Schritt vor. Wichtig ist, wenn wir etwas behaupten, dann begründen wir unsere Behauptung
und dann beweisen oder belegen wir sie durch den Text. Wenn wir die Botschaft auspacken,
dann müssen wir die Form auseinandernehmen. In YouTube-Deutsch:
Was sehen wir uns an? Formaler Aufbau, Sprache und Stil.
Welche Wortarten kommen vor, welche Wortfelder, Satzarten? Sprachliche Mittel wie Metaphern, Stilmittel.
Wer spricht? Eventuell lyrisches Ich? Wird jemand angesprochen? Ist es ein Traum oder geht es um ein wirkliches Ereignis?
Fangen wir mal vorne an. Der Titel und der Gedichtanfang machen klar, worum es geht.
Um den Prozess des Alterns. Das Alter ist für Goethe aber nichts, was einem einfach widerfährt.
Der Dichter personifiziert das Alter mit einem Mann. Goethe macht auch darauf aufmerksam,
dass wir eine gespaltene Haltung zum Älterwerden haben. Die Aussage im letzten Vers widerspricht der Aussage im ersten Vers.
Erst ist das Alter ein höflicher Mann, dann ein grober Gesell. Ganz offenbar ändert sich unsere Einstellung zum Alter,
je nachdem wie sich das personifizierte Alter benimmt. Ihr habt es gemerkt, ich hab hier nicht nur auf den Text selbst,
auf den Inhalt, Bezug genommen, sondern auch auf die Form. Bei Gedichten ist nichts zufällig.
Und dass oben "höflich" steht und unten "grob", also ein Gegensatz das ganze Gedicht umklammert,
da schrillen die Alarmglocken. Das muss ja was bedeuten.
Hier ist es einfach: Es geht um eine Entwicklung, vorher und nachher.
Aber machen wir mal weiter. Solange sich das Alter nur leicht bemerkbar macht,
nehmen wir das positiv zur Kenntnis. Man könnte an Jugendliche denken, die gerne älter wären, als sie sind,
und jeden Geburtstag herbeisehnen, vor allem den 18. Das empfinden wir als höflich.
Weniger gefällt uns schon, dass das Alter hartnäckig ist, einmal über's andere anklopft.
Niemand ruft: Herein, bedeutet nichts anderes, als dass wir das Alter ignorieren. Als höflich empfinden wir das sicher schon nicht mehr.
Ein höflicher Mann würde wieder gehen, wenn man ihn nicht willkommen heißt. Aber es gibt keine Chance, dem Besuch des Mannes zu entgehen.
Das personifizierte Alter hat seinen eigenen Willen und setzt ihn auch durch, indem es durch die Tür geht, denn "vor der Türe will er nicht sein".
Hier ist mir das Wort "will" aufgefallen. Normalerweise würden wir sagen, das Alter ist so wie das Wetter, es ist da.
Man kann sich zwar drüber ärgern, aber man kann's ja nicht ändern. Goethe hat aber aus dem Alter einen Mann gemacht, es personifiziert.
Warum schreibt er nicht: "Er muss hinein"? "Muss", weil die Natur es verlangt.
Nein, er spielt damit, dass wir schon fast beleidigt sind, weil wir älter werden.
Beleidigt kann man aber nur gegenüber einem Menschen sein oder eben einer Personifikation.
Dass Goethe den Lesern vor Augen führen will, wie wir das Alter verdrängen, wird an der Formulierung "tritt ein so schnell" sichtbar.
Offenbar fühlen wir uns überrumpelt, weil das Alter so plötzlich kommt. Natürlich hat der Mann lange geklopft, doch wir haben es erst ignoriert,
dann verdrängt, sodass wir dann überrascht sind, wenn er hereinkommt. Und natürlich empfinden wir
dieses gewaltsame, also "grobe" Eindringen als Frechheit. Auch wenn bei dem kurzen Gedicht wenig Platz für sprachliche Mittel ist,
finden wir doch einige. Die Personifizierung haben wir schon erwähnt.
Jetzt sehen wir mal, ob auch im Aufbau des Gedichtes etwas steckt. Goethe gliedert seinen Text in drei Abschnitte,
die mehrfach unserer Lebenserfahrung entsprechen. Die Gliederung ergibt sich vor allem
aus den drei aufeinanderfolgenden Reimpaaren, die das Gedicht ordnen.
"Mann" - "an", "Herein" - "sein", "schnell" - "Gesell". Da es im Gedicht thematisch um das Alter geht,
liegt es hier nahe, dass sich hier die drei Lebensalter - Jugend, Erwachsenenzeit, Greisenalter - wiederspiegeln.
Aber auch der Prozess von keinen Bock mehr haben, verdrängen, sich ausgeliefert fühlen,
den viele Menschen beim Altern eben durchmachen. Und nun kommt der Schlussteil, in dem wir nochmals zusammenfassen
und wieder auf unsere Deutungshypothese zurückkommen. Nämlich, dass das Schlimme nicht das Altern an sich ist,
sondern dass wir es so lange ausblenden, bis es nicht mehr geht. Insofern ist Goethes Gedicht eine im Ton heitere Mahnung an uns,
uns mit dem Alter zu beschäftigen. Wenn wir nicht überrumpelt sein wollen
und das Alter als Zumutung empfinden wollen, ja, dann müssen wir anders damit umgehen.
Man kann sich am Ende einer Analyse auch die Zeit anschauen, in der das Gedicht entstanden ist.
Da hilft es auf jeden Fall sich die Lebenssituation des Autors anzuschauen. Gehen wir mal in das Jahr der Veröffentlichung, 1815.
Da war Goethe bereits 66 Jahre alt. Ist nicht verwunderlich, dass Goethe mit dem Eintritt
in seine letzte Lebensphase dieses Gedicht verfasst. Er selbst wird die Mühen des Alterns am eigenen Leib erfahren haben.
Deswegen trägt dieses recht heitere Gedicht einen selbstironischen Zug. Goethe schmunzelt darüber, dass er und wir alle so naiv mit dem Altern umgehen.
Eine wirkliche Alternative sieht er aber nicht, denn er ruft uns nicht dazu auf, den höflichen Mann hereinzubitten.
Es ist eben ein zutiefst menschliches Verhalten auf die ewige Jugend zu hoffen. Jetzt haben wir mal eben auf die Schnelle ein Gedicht interpretiert.
Das Paket ist ausgepackt und einige Dinge, die wir aus unserem Gedichtepaket hier geholt haben,
könnt ihr bei anderen Gedichten untersuchen. Insofern ist das hier eine Art Unboxingvorlage für weitere Gedichte.
Aber Vorsicht: Jedes Gedicht ist natürlich etwas anders und ihr müsst neue Detektivarbeit leisten.
Habt ihr noch Fragen zur Gedichtanalyse, schreibt sie gerne in die Kommentare. Wenn es euch gefallen hat, lasst ein Abo und einen Daumen nach oben da.
Bis zum nächsten Mal. Tschüss! Untertitel im Auftrag des ZDF für funk, 2017
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